Mädchenbildung > Zweite Republik

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Nachdem das Schulgebäude der Rahlgasse keine Bombenschäden erlitten hatte und die evakuierten Mädchen der Unterstufe nach fast zweijähriger Trennung von ihren Familien Ende September 1945 nach Wien zurückgekehrt waren, wurde der Unterricht auch für die 10–14jährigen Mädchen wieder aufgenommen. Die schlechte Versorgungssituation mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Gebrauchs und fehlende Unterrichtsmaterialen prägten die ersten Jahre nach Kriegsende. Die Jugendlichen, die während der Jahre 1933–1945 aufwuchsen, waren durch die pädagogischen Konzepte der Nationalsozialisten stark geprägt. Im Unterricht wurden Inhalte wie Rassenbewusstsein, Einordnung und Gehorsam, Loyalität gegenüber Führer und Vaterland und der Glauben an die Notwendigkeit uneingeschränkter Selbstaufopferung vermittelt. Relativierendes Denken, Ausbildung von Kritikfähigkeit und die Beschäftigung mit alternativen Denk- und Handlungsentwürfen waren verpönt. Obwohl es auch an der Rahlgasse differenzierte Formen des Widerstandes gegeben hatte, lebten nationalsozialistische Werte und Haltungen nach 1945 in den Köpfen vieler Jugendlicher und LehrerInnen weiter. In ihrer Erfahrung basierte die Errichtung der Zweiten Republik auf der Niederlage eines politischen Systems, an das sie geglaubt hatten. Als Folge behielten viele Jugendliche eine lebenslange Aversion gegen jegliches politisches Engagement. Einige der Pädagoginnen der Rahlgasse hatten ihre Ausbildung noch während der Glöckel’schen Schulreform erfahren. Wie die neue, sozialdemokratische Direktorin Maria Jacot versuchten sie, an den pädagogischen Konzepten der 1920er Jahre anzuknüpfen. Dabei ging es in erster Linie um den Arbeitsunterricht im Gegensatz zum Frontalunterricht und um das Mitspracherecht von Schülerinnen beim Erarbeiten neuer Stoffgebiete.

Während schulpolitisch in der Nachkriegszeit vor allem in den ländlichen Gebieten Österreichs das Problem der flächendeckenden Versorgung mit höheren Schulen im Vordergrund stand, behielt die Rahlgasse den Charakter einer Eliteschule für Mädchen aus dem städtischen Einzugsbereich. Kennzeichnend wie für viele innerstädtischen Schulen war die veraltete Bausubstanz, der Raummangel und die eingeschränkten Sport- und Bewegungsmöglichkeiten. Der Turnunterricht fand im Sommer vorzugsweise im Augarten statt.

Gesellschaftspolitische Änderungsprozesse schlugen sich langfristig auch in der Schulpolitik nieder: Ab dem Ende der 1960er Jahre machte die zweite Frauenbewegung Geschlecht und Geschlechterdifferenz, geschlechtsspezifische Diskriminierung und Emanzipation wieder zum öffentlichen politischen Thema. Die Koedukation wurde als wesentlicher Schritt in den Gleichberechtigungsbestrebungen der Frauen angesehen: Durch die gemeinsame schulische Erziehung von Mädchen und Buben, so die Hoffnung, würde sich ein unverkrampfter und partnerschaftlicher Umgang der Geschlechter von selbst ergeben. Die Geschlechtertrennung im österreichischen Bildungssystem wurde formalgesetzlich noch bis 1962 beibehalten, aus organisatorischen Gründen existierten jedoch im öffentlichen Schulsystem schon in den Jahren davor gemischtgeschlechtliche Klassen. Die letzte große Veränderung für die höhere Mädchenbildung in Österreich trat 1975 mit einer Gesetzesnovelle in Kraft, die die Geschlechtertrennung an Volksschulen, Hauptschulen, polytechnischen Lehrgängen und allgemein bildenden höheren Schulen generell aufhob. Verhältnismäßig spät, nämlich erst ab dem Schuljahr 1978/79, besuchten erstmals auch Buben das Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Rahlgasse. Unter der Direktion von Martha Schieferdecker (1978–1992) wurden pädagogische Schwerpunkte mit neuen Konfliktlösungsformen und Offenem Lernen (aktive, selbst- und mitbestimmte Auseinandersetzung mit Lerninhalten) gesetzt.

1992 übernahm Heidi Schrodt die Leitung der Schule. Als Lehrerin hatte sie die Erfahrung gemacht, dass in koedukativ geführten Klassen häufig die Kommunikation von den Buben dominiert wurde, während die Mädchen verstummten und sich zurückzogen. Auch bezüglich der geschlechtsspezifischen Berufswahlentscheidung hatte sich trotz formal gleichem Bildungszugang und Aufklärungskampagnen wenig geändert. Die Hoffnungen, die diesbezüglich in die Koedukation gesetzt worden waren, hatten sich nicht erfüllt. Aus diesem Grund besann sich Heidi Schrodt auf die Gründungsgeschichte der Rahlgasse als höhere Bildungsanstalt für Mädchen, die auf die Bildungsbestrebungen bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert zurückging. Für diese war Koedukation kein Thema gewesen, der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Buben wurde damals als „sittenwidrig“ angesehen. Bemerkenswert war, dass die Schülerinnen in diesem „geschützten Raum“ einer reinen Mädchenschule auch in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern ausgezeichnete Leistungen erbrachten.

Vom Wintersemester 1994 bis einschließlich Sommersemester 1995 lief in der Rahlgasse ein Schulversuch, der sich „Neue Wege in der Koedukation“ nannte und dessen prominentestes Merkmal die Errichtung einer Mädchenklasse war. Diese war von Beginn an sehr umstritten und stand immer wieder im Brennpunkt der Öffentlichkeit. Der Erfahrungen und Reflexionsprozesse aus der Mädchenklasse wurden in konkrete Maßnahmen zur Schaffung einer „geschlechtergerechten Schule“ eingesetzt, in der bewusste Koedukation ein dezidiertes Anliegen ist. Dazu gehört die Etablierung von Mädchen- und Bubenbeauftragten, zeitweise geschlechtsspezifisch getrennter Unterricht, technisches und textiles Werken verpflichtend für Mädchen und Buben, Gendertrainingstage und Projekttage, an denen Mädchen und Buben einmal ganz andere Rollen ausprobieren und mit diesen Rollen experimentieren können. Heute steht die Rahlgasse für geschlechtssensiblen Unterricht und bewusste Koedukation.