Vor der Fristenregelung > Verhütung im langen 20. Jahrhundert

Arbeiter-Zeitung 1928 Arbeiter-Zeitung 1928 Inserate 1931 Inserate 1931 Kondomwerbung 1941 Kondomwerbung 1941 Zykluskalender 1952 Zykluskalender 1952 Inserat 1955 Inserat 1955 Pille 1961 Pille 1961 Spiralen 1969 Spiralen 1969 "Sexkoffer" 1989 "Sexkoffer" 1989

Verhütungswissen und Verhütungspraktiken sind historisch schwierig zu fassende Phänomene. Zwar lässt sich nachvollziehen, welche Bücher und Artikel in einem bestimmten Zeitraum zu welchen Themen erschienen. Offen bleibt, wer diese Bücher gelesen und das so Kennengelernte angewandt hat. Gänzlich unbekannt bleibt, welches nicht niedergeschriebene Wissen es gab, was wer wem in intimen Gesprächen geraten oder weitergegeben haben mag. Man kann danach suchen, für welche Produkte in welchen Medien geworben wurde, und kann davon ausgehen, dass diese Produkte tatsächlich vertrieben, wahrscheinlich auch genutzt wurden. Es gibt aber für Österreich kaum frühe sexualwissenschaftliche Studien und damit Erhebungen, wer welche Verhütungsmethoden wie oft genutzt hat. Es kann also nur festgestellt werden, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht wissen und kennen konnte. Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Gebieten, zwischen gebildeten Gruppen und solchen mit weniger Zugang zur Schule oder gar Universität kann man vermuten, wie sich diese Differenzen ausgestalteten, kann nur spekuliert werden.

In Österreich war die katholische Kirche bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflussreich: Verhütung und Abtreibung waren in ihrer Morallehre verboten, der katholische Klerus sah darin Zeichen der Dekadenz und des Sittenverfalls. Trotzdem ist davon auszugehen, dass im Lauf des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen versuchten, ihre Fortpflanzungsfähigkeit zu steuern: weil sie zu arm waren, um überhaupt einen Haushalt zu gründen, und im Haus eines Dienstgebers wohnten; weil sie schon die bereits vorhandenen Kinder kaum ernähren konnten; weil ihre Gesundheit keine (weiteren) Geburten zuließ. Die zunehmende Verbreitung von Verhütung ließ dann auch die Geburtenraten am Ende des 19. Jahrhunderts so deutlich sinken, dass eine öffentliche Diskussion über diese „Bedrohung“ ausbrach.

Die spärlichen Hinweise darauf, wie es Menschen anstellten, weniger Kinder zu bekommen, aus Ländern wie den USA, Frankreich oder Deutschland oder beispielsweise aus Verhören bei Gerichtsprozessen, lassen darauf schließen, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der Coitus Interruptus bei weitem die verbreitetste Verhütungsmethode war.
Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige mehr oder weniger sichere Verhütungsmittel zumindest in Teilen der Gesellschaft bekannt waren: Die Einführung der industriellen Vulkanisierung von Kautschuk Mitte des 19. Jahrhunderts hatte wesentliche Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln: Pessare und Kondome wurden in der ab dem Ende des 19. Jahrhunderts boomenden Ratgeberliteratur ebenso empfohlen wie in die Scheide einzuführende Wattebäusche. Für das Wien der 1920er Jahre ist ein großes Interesse an Verhütungswissen dokumentiert: Die Zeitungen sprechen von über tausend Zuhörern und Zuhörerinnen, wenn an einem Veranstaltungsort ein Vortrag zum Thema angekündigt war.

Scheidenpessare waren das Mittel der Wahl in der ab den 1920er Jahren in Wien bestehenden Sexualberatungsstellen. In den Einrichtungen des „Bundes gegen den Mutterschutzzwang“ beispielsweise wurden mittellose Frauen an Ärzte und Ärztinnen vermittelt, die ihnen die Pessare kostenlos anpassten. In Zeitungen und Zeitschriften finden sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Bruch durch die Faschismen häufig Annoncen für „Mutterspritzen“ oder „Irrigatoren“, die für Scheidenspülungen verwendet wurden und nach dem Geschlechtsverkehr mit reinem oder mit chemischen Substanzen versetztem Wasser eingesetzt wurden — vorzugsweise in einem Badezimmer. In einer Bassena-Wohnung mit einem Klo am Gang für mehrere Parteien ist der Einsatz dieser Methode eher schlecht vorstellbar. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auch Intrauterinpessare aus Hartgummi oder Metall, also Vorläufer der Spirale. Die spärlichen Quellen deuten allerdings darauf hin, dass diese Technologie nur vereinzelt angewandt wurde.

Die einzige Methode, die von der katholischen Kirche akzeptiert wurde, war die Rhythmus-Methode, also die Beschränkung von Geschlechtsverkehr auf die (vermeintlich) unfruchtbare Phase des Menstrualzyklus. War diese Vorgangsweise ohnehin schon sehr fehleranfällig, gestaltete sich ihre Anwendung vor den 1930er Jahren auch deswegen oft fatal, weil offenbar nicht zutreffende Meinungen im Umlauf waren, was die Verteilung von fruchtbaren und unfruchtbaren Phasen im Zyklus anlangte: So riet der Aachener Sanitätsrat Capellmann in einem im frühen 20. Jahrhundert verbreiteten Ratgeber, man solle Geschlechtsverkehr auf die Zeit zwischen zwei Wochen nach der Menstruation und drei bis vier Tage vor der Menstruation beschränken. Eine andere Expertenmeinung besagte, dass eine Empfängnis nur während der Regelblutung sowie bis zu zwölf Tage danach möglich sei.

Erst Ende der 1920er Jahre entwickelten und veröffentlichten Hermann Knaus und Kynsaku Ogino, ersterer Gynäkologe in Österreich, der andere in Japan, die nach ihnen benannte Methode, die den Verlauf des weiblichen Zyklus annähernd korrekt abbildet.

Erst die Markteinführung der Pille Anfang der 1960er Jahre restrukturierte das Problemfeld Verhütung: Die Pille, das bisher effizienteste Verhütungsmittel, war nur auf ärztliche Verschreibung erhältlich, verstärkte also die Abhängigkeit von Frauen, die verhüten wollten, von einem Arzt oder einer Ärztin. Ihre nicht unerheblichen Kosten wurden nicht von der Krankenkasse übernommen. Zu ihrer Einnahme, also „Anwendung“ brauchte es aber weder spezielle hygienische Voraussetzungen noch wesentliche Kenntnis des eigenen Körpers. Zu ihrem Erfolg mag neben der Sicherheit auch beigetragen haben, dass sexuelle Aktivität und „Anwendung“ getrennt erfolgten.

Außer den hormonellen Präparaten waren alle heute verwendeten Verhütungsmittel im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Kern bekannt. Die bis in die 1960er Jahre am meisten verbreiteten Methoden waren extrem unsicher, die Anwendung von technischen Mitteln setzte zumindest entsprechendes Wissen voraus. Im katholisch geprägten Österreich war sexuelle Aufklärung aber bis in die 1970er Jahre „Privatsache“. Auch danach war Sexualkundeunterricht in der Schule nicht unumstritten, wie die heftige Auseinandersetzung um den sogenannten „Sexkoffer“ in den 1980er Jahren zeigt.

Schwieriger Zugang sowie mangelndes Wissen über den eigenen Körper und Sexualität waren im Österreich des 20. Jahrhunderts wesentliche Voraussetzungen dafür, dass die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen aus zeitgenössischer Sicht erschreckend hoch war.