Vor der Fristenregelung > Abtreibung in der öffentlichen Diskussion

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Abtreibung oder „Fruchtabtreibung“ in der zeitgenössischen Sprache wurde in Österreich Ende des 19. Jahrhunderts zum öffentlich diskutierten Thema. Vertreter der katholischen Kirche prangerten Kindsmord und eben Abtreibung an, weil sie darin den Grund für sinkende Geburtenraten, die sie als gesellschaftliches Problem sahen, zu finden glaubten. Der „Wille zum Kind“ müsse gestärkt, Abtreibung und Kindstötungen verhindert werden, das gesetzliche Verbot müsste daher strikter durchgesetzt werden.
Die Frauenbewegung beschäftigte sich anfänglich nur zögerlich mit dem Thema, es gibt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nur sehr wenige Quellen, die auf eine Debatte verweisen. 1907 wurde – nach deutschem Vorbild – der Österreichische Bund für Mutterschutz gegründet, der dem Bund österreichischer Frauenvereine angehörte und ab 1911 auch eine Vereinszeitschrift herausgab. Vereinsziel war die Verbesserung der Lage unehelicher Mütter und ihrer Kinder. Neben sozialpolitischen Forderungen und Aktivitäten wie der Gründung eines Heims für unehelich Gebärende war Kritik am strengen Abtreibungsverbot ein Aspekt der Stellungnahmen des „Bundes“. Auch in der Presse der bürgerlichen Frauenbewegung war die „Fruchtabtreibung“ in einen sozialpolitischen Zusammenhang eingebettet, dessen zentrales Thema Maßnahmen für erwerbstätige Schwangere oder Mütter war.

1911 nahm die Generalversammlung des Bundes Österreichischer Frauenvereine die Vorschläge seiner Rechtskommission zur gerade diskutierten Reform des Strafgesetzes an: Darin wurde auch eine Reform der Abtreibungsgesetze gefordert. Abtreibung sollte zwar grundsätzlich strafbar bleiben. Es sollte aber in Ausnahmefällen von der Strafe abgesehen werden können, wenn die Schwangerschaft Gesundheit oder Leben der Schwangeren bedrohe; wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung entstanden sei; wenn der prospektive „Vater“ die Schwangere, ob mit ihm verheiratet oder nicht, verlassen und damit „der Not preisgegeben“ hätte; wenn das Kind aufgrund einer Krankheit oder „Trunksucht“ der Eltern „schwer belastet“ zur Welt kommen würde; wenn die Frau gegen ihren Willen von jemandem, der „betrunken“ oder „gänzlich erwerbsunfähig“ wäre, schwanger geworden sei; oder wenn die Frau schon so viele Kinder hätte, dass für den Unterhalt eines weiteren keine Ressourcen vorhanden waren. Es waren also bereits jene „Indikationen“ angelegt, die die Diskussion in Österreich bis in die 1970er Jahre und die internationale noch wesentlicher länger prägen sollten. In der Zeitschrift des Bundes für Mutterschutz wurde zustimmend über die Vorschläge des Bundes österreichischer Frauenvereine berichtet. Die diskutierte Strafrechtsreform fand allerdings nicht statt.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Einführung des Frauenwahlrechts wurde die Abtreibung zum politisch heftig diskutierten Thema. Der 1919 gegründete Bund gegen den Mutterschaftszwang forderte Straffreiheit für Abtreibungen bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats, wenn der Eingriff von einem Arzt durchgeführt wurde. Möglicherweise nahm die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), die in der Ersten Republik Frauen als Wählerinnen gezielt ansprechen wollte, dort eine Anleihe. Die Frauenreichskonferenz des Jahres 1920 übernahm das Anliegen und forderte den Sozialdemokratischen Parlamentsklub auf, einen entsprechenden Antrag einzubringen: In den Folgejahren beharrte die SDAP auf ihrer Forderung, angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse wurde eine auch nur teilweise Realisierung immer unwahrscheinlicher.

Mit der Faschisierung Österreichs kam es zuerst zu einer weiteren Verschärfung des Abtreibungsverbots, nach dem Anschluss Österreichs dann zu seiner rassistischen Restrukturierung. Nach der – ebenfalls dekretierten und diskussionslosen – Wiederherstellung des generellen Abtreibungsverbots der Ersten Republik im Juni 1945 wurde "Abtreibung" schon in den folgenden Monaten zum öffentlich umstrittenen Thema. Zum einen nahmen die sozialdemokratischen Frauen "ihre" Tradition aus der Ersten Republik wieder auf und forderten eine Liberalisierung der Gesetze. Allerdings stießen sie dabei schnell auf Widerstände innerhalb der eigenen Partei: Für die männlich dominierte Parteiführung hatte "Abtreibung" auf der sozialdemokratischen Agenda der "Aufbau"-Zeit keine Priorität. Ein Insistieren auf der traditionellen Forderung nach gesetzlicher Liberalisierung hätte die „Aufbau“-Koalition mit der christlich-konservativen ÖVP gefährdet.

Die Situation sollte sich erst Ende der 1960er Jahre mit der Entstehung einer „neuen“ Frauenbewegung zuerst in den USA, dann auch in europäischen Ländern wie der BRD und Österreich ändern. "Frau Sein" gewann als politische Kategorie an Bedeutung und wurde Grundlage von politischer Mobilisierung und Organisierung. Die Forderung nach "Selbstbestimmung" wurde zentrales neues Argument der Gegnerinnen des Abtreibungsverbots, das Recht der Frauen, über eine Schwangerschaft selbst zu entscheiden, wurde aus Sicht der „neuen“ Frauenbewegung zur conditio sine qua non der Emanzipation.

In dieser Situation machte die SPÖ, die, ab 1971 erstmals in ihrer Geschichte mit einer absoluten Mehrheit an Stimmen und Mandaten ausgestattet, ihre Reformkompetenz unter Beweis stellen wollte, die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze zu "ihrem" Thema und verabschiedete schließlich die Fristenregelung, die schwangeren Frauen während der ersten drei Schwangerschaftsmonate das Recht einräumte, über ihre Schwangerschaft zu entscheiden. Parallel dazu erreichte die öffentliche Auseinandersetzung einen Höhepunkt, was sich unter anderem in der Abhaltung des bis dahin erfolgreichsten Volksbegehrens der Republik, jenem der „Aktion Leben“ gegen die Fristenregelung, zeigt.

Ab dem Ende der 1970er Jahre flaute der öffentliche Konflikt ab: Die ÖVP war zur Auffassung gelangt, dass mit der Forderung nach Wiedereinführung von Strafen für Schwangerschaftsabbruch mehr Wähler_innen abgeschreckt als gewonnen wurden. Die SPÖ ihrerseits gab sich mit einer "halben" Reform – in großen Teilen Österreichs wurde und wird die Fristenregelung de facto boykottiert – zufrieden, um ihre Beziehungen zur katholischen Kirche nicht zu belasten.

Die autonome Frauenbewegung hat ihre thematischen Schwerpunkte verlagert, außerdem an Organisations- und damit an politischer Mobilisierungskraft verloren. Die katholische Amtskirche, an deren Spitze bis Mitte der 1980er Jahre liberale Theologen standen, insistierte nach ihrer Niederlage vorderhand nicht mehr darauf, dass die der katholischen Morallehre entsprechende Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs mit den Mitteln des staatlichen Strafgesetzes durchgesetzt werde. Allerdings zeigen Wahlkämpfe und andere tagespolitische Anlässe bis ins 21. Jahrhundert, dass die Emotionalisierung von "Abtreibung" immer noch leicht zu aktualisieren ist.